Redebeitrag autonomer Antifaschist_innen bei der Mahnwache am 20.02.2020. Anlass dazu waren die rassistischen Morde in Hanau.
Als gestern Abend die ersten Nachrichten über eine Schießerei mit mehreren Toten in Hanau kamen, wusste man fast noch nichts über die Motive des Täters. Heute ist klar: Der Täter hat aus rassistischem Hass getötet.
Über den Täter selbst ist bis jetzt noch vieles unbekannt: In welchen Kreisen er verkehrte, wie lange er die Tat geplant hatte, ob es Mitwisserinnen oder Mitwasser gab und so weiter. Bekannt ist allerdings: Tobias Rathjen glaubte, sein Gehirn werde von einem Geheimdienst überwacht. Er war überzeugt, gedanklich Vorhersagen zu treffen und mit seinen Gedanken die Realität zu bestimmen. Der Irakkrieg, die Personalwechsel beim DFB, diverse Hollywoodfilme – alles sei letztlich auf ihn zurückzuführen.
Reflexhaft rufen jetzt Viele: „Die wahnhafte Tat eines Irren!“, wie es auch die AfD getan hat. Und ja, es spricht vieles dafür, dass der Attentäter psychisch krank war. Doch die Mischung aus Größen- und Verfolgungswahn, die bei ihm mutmaßlich in pathologischer Form zu Tage getreten ist, kann in geringerer Ausprägung als quasi übergeordnetes psychologisches Element extrem rechten Denkens auch bei AfD und Co. beobachtet werden. Außerdem erklärt eine psychische Erkrankung die Tat nicht. Sie erklärt nicht, warum der Täter ausgerechnet in zwei Shiha-Bars Menschen erschossen hat. Mit dem Gerede von der „Tat eines Irren“ versuchen die extreme Rechte und Teile der Mehrheitsgesellschaft sich selbst zu entlasten. Doch diese Ausflüchte nehmen wir nicht hin – gemeinsam mit den Opfern und ihren Angehörigen sowie den migrantischen Communities werden wir als Antifaschistinnen und Antifaschisten gegen eine Entpolitisierung der Tat kämpfen.
Ob Tobias Rathjen in psychologischer Behandlung war, ist bisher nicht bekannt. Dass er aus seinem Umfeld Zuspruch für rassistische Aussagen erhalten hat, schon: Dass manche Menschengruppen mehr wert sein als andere, das Deutsche Volk bedroht sei und dass bestimmte Menschengruppen ausgelöscht werden müssen. Diese menschenverachtende Ideologie der Ungleichheit äußert sich nicht nur, wie gestern in Hanau, in Terrorismus und Mord. Sie steckt auch in der rassistischen Abwertung und Ausgrenzung, die Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten und all jene, die als nicht-deutsch identifiziert werden, jeden Tag erfahren. Zwischen ihm und einem Arbeitskollegen habe es einen „Konsens über dieses Thema“ gegeben, schreibt Rathjen. Tatsächlich geht dieser Konsens weit über ihn und seinen Kollegen hinaus.
Der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft ist aus der Einstellungsforschung seit Jahrzehnten bekannt. So stimmen beispielsweise über 60 % der Bevölkerung der Aussage zu, „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Und vielen dieser Otto-Normal-Rassistinnen und Rassisten und ist es dabei ganz egal, ob Personen tatsächlich ‚Ausländer‘ sind oder einen deutschen Pass haben. Es geht eben nicht um ‚Ausländerfeindlichkeit‘ – Weiße aus Norwegen oder Großbritannien sind in aller Regel nicht betroffen. Das Problem heißt Rassismus. Vielen Medien in Deutschland geht das Wort nicht mal heute über die Lippen, obwohl der Attentäter in seinem Manifest ganz offen von der Überlegenheit der eigenen Rasse schwadroniert. Stattdessen sprechen sie von ‚Fremdenfeindlichkeit‘ und machen damit unsere Nachbarinnen und Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde oder – sofern wir selbst als nicht-deutsch identifiziert werden – uns sprachlich zu Fremden. Medien, Politik und die Mehrheitsgesellschaft müssen endlich verstehen, dass Deutschland seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist. Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft, in der nicht alle blass sind und Namen wie wie Christian und Julia tragen – seht das endlich ein.
Über die Opfer des rassistischen Anschlags von gestern Abend ist bisher wenig bekannt. Wenn sich dies in den nächsten Tage zumindest teilweise ändert, fordern wir euch auf: Lest die Geschichten über die Betroffenen und ihre Angehörigen. Macht euch klar, dass hier Menschen aus dem Leben gerissen wurden und in ihrer Mitte eine Lücke hinterlassen haben. Seid solidarisch mit den Familien, wenn sie Unterstützung brauchen. Und hört euch an, was die migrantischen Communities zu sagen haben.
Lasst und gemeinsam gegen Rassismus und Nationalismus kämpfen.
Organisieren wir eine starke antirassistische und antifaschistische Bewegung.Streiten wir gemeinsam für eine Gesellschaft der Vielen.
Eine Gesellschaft, in der jede und jeder ohne Angst verschieden sein.