Die Vorwürfe sind erschreckend. Die oppositionsnahe russische Zeitung „Novaya Gazeta“ hat Anfang April einen Bericht veröffentlicht, der die Verfolgung, Folter und sogar Tötungen Homosexueller durch tschetschenische Sicherheitskräfte nahelegt. Nun ist die Stigmatisierung von sexueller Minderheiten im russischen Staatsgebiet mit Sicherheit kein Novum, aber die Vorwürfe, dass durch Behörden vermeintliche Homosexuelle auf Staatsauftrag interniert, gefoltert und umgebracht werden, ist eine neue Dimension.
Solidarität mit den Betroffenen muss dahingehend auch heißen, dass man versuchen muss, die Besonderheiten der russischen Teilrepublik Tschetschenien zu verstehen und richtig einzuordnen. Daher zunächst ein kurzer historischer Abriss:
Nach dem Untergang der Sowjet Union gab es im mehrheitlich muslimischen Tschetschenien zwei blutige Bürgerkriege (den ersten von 1994 bis 1996, den zweiten Konflikt von 1999 bis 2009) in denen die Tschetschenen versuchten, sich von Russland unabhängig zu machen. Diese Konflikte forderten über 150.000 Menschenleben, darunter rund ein Fünftel der tschetschenischen Bevölkerung. Auf der einen Seite kämpften, spätestens seit dem zweiten Tschetschenienkrieg, mehrheitlich islamistische Separatisten gegen Soldaten der russischen Zentralregierung. Die Grausamkeiten, mit denen sich die Separatisten und die russische Armee – und beide zusammen die Zivilbevölkerung – bekämpften, sind unbeschreiblich.
Putin setzte, um den Konfliktherd zu befrieden, den Kadyrow-Clan als pro-russische Statthalter ein. während mutmaßlich Separatisten weiterhin grausam bekämpft wurden. 2009 erklärte Putin den zweiten Tschetschenienkrieg für beendet. An der Spitze der russischen Teilrepublik steht seit 2007 Ramsan Kadyrow. Kadyrow ist ein Selbstdarsteller, der seines gleichen sucht. Er präsentiert sich als die personifizierte Männlichkeit, einen Terrorismus bekämpfenden Actionheld, den Vater Tschetscheniens und strengen Muslim, dessen Liebe zum Islam nur von seiner Liebe zu Putin übertroffen wird. Wie gelang es dieses Pulverfass scheinbar zu befrieden?
Einerseits regiert Kadyrow das Land mit eiserner Hand, Menschenrechtsverletzungen sind dabei eher die Regel als die Ausnahme. Dabei profitierte er sicher davon, dass viele Mudjaheddin, also selbsternannte Gotteskrieger, sich dem Bürgerkrieg in Syrien widmeten. Andererseits wird das wirtschaftlich weit abgeschlagene Land mit sehr viel Geld aus Zentralrussland subventioniert. Die Skyline der vormals komplett zerstörten Hauptstadt Grosny soll der von Dubai nachempfunden sein und vermittelt dadurch das falsche Bild des wirtschaftlichen Aufschwungs, obwohl die Korruption offensichtlich ist. Ein weiteres Mittel zur Scheinbefriedung Tschetscheniens stellt die unglaubhafte Hinwendung Kadyrows zu einer sehr strengen Islamauslegung dar, unglaubhaft unter anderem deshalb, weil er ja dem christlichen Russland dient. Genau das werfen ihm tschetschenische Mudjaheddin vor: er könne kein wahrer Muslim sein, da er sich sonst vom ungläubigen Russland abwenden müsse. Also verpasst Kadyrow keine Gelegenheit um klarzustellen, dass er doch ein wahrer Muslim ist. Er führte die Scharia als Rechtsform ein, ließ überall prunkvolle Moscheen bauen und ermutigte die traditionellen Clans zu Selbstjustiz und Ehrenmorden. Entsprechend kann die Stellungnahme zu den Vorwürfen zur Homosexuellenverfolgung von Kadyrows Sprecher eingeordnet werden. Dieser meinte, dass die Vorwürfe hinfällig seien, da es in Tschetschenien keine Homosexuellen gäbe. Zudem meinte er, dass, würden solche Leute in Tschetschenien existieren, die Sicherheitsbehörden sich gar nicht um sie kümmern müssten, da ihre Verwandten sie selbst an einen Ort schicken würden, von dem sie nicht zurückkehren.¹
Diese Art der Homosexuellenverfolgung durch Familienverbände und Clanstrukturen oder auch die die Verfolgung von Frauen die sich aus Sicht des Clans unredlich verhalten haben, können wir überall dort sehen, wo das islamische Recht über das bürgerliche oder gar Menschenrecht gestellt wird. Eine Person verhält sich anders als von der Familienbande gewünscht und wird dafür auf das Härteste, oft mit dem Tod, sanktioniert, da sie die Clan-Ehre verletzt hat. Dass dieses Konzept dem emanzipatorischen Anspruch auf individuelle Freiheit diametral gegenübersteht, sollte auf der Hand liegen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, in welchem Land das geschieht und selbstverständlich gar keine welche Hautfarbe die Beteiligten haben. Die Häufigkeit solcher Vorfälle ist abhängig davon, ob und wie der Staat gegen diese Selbstjustiz vorgeht oder sie am Ende noch fördert. In Tschetschenien, aber auch beispielsweise in Nigeria, dem Iran, Saudi Arabien oder auch in Indonesien gibt es für Betroffene quasi keine Hoffnung, sich an den Staat zu wenden, da dieser die vorherrschenden Verhältnisse stützt. Aber auch eine ein schwacher Staat in mehrheitlich muslimischen Gebieten fördert die Selbstjustiz nach der Scharia, denn diese ist unabhängig von der Staatlichkeit.
Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn wir uns heute mit den Verfolgten in Tschetschenien solidarisieren, uns auch solidarisch mit all jenen zeigen, deren Recht auf physische und psychische Unversehrtheit unter dem Banner des Islam missachtet werden. Die Kurzschlussreaktion, dass es „den“ Islam nicht gebe oder dass die Ausübung der Selbstjustiz von Clanstrukturen nichts mit dem Islam zu tun habe, entbehrt nicht nur jeglicher Grundlage, sondern verschränkt auch die Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn wir von hier aus auch nicht viel für die Betroffenen tun können, so sind wir es ihnen schuldig, uns mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, die sie in diese furchtbare Situation gebracht haben.
In diesem Sinne:
Solidarität mit den verfolgten sexuellen Minderheiten in Tschetschenien und überall sonst!
Individuelle Freiheit statt Clan- und Familienbande!
Für den Kommunismus!
¹http://www.dailymail.co.uk/news/article-4397118/Chechnya-opens-concentration-camp-homosexuals.html